vom schrottplatz zum coverstar
Die Wiedergeburt eines Bianchi Ragno
Es gibt Fahrräder, die begleiten einen ein Leben lang – nicht weil sie teuer oder selten sind, sondern weil sie Geschichten erzählen. Dieses Bianchi Ragno, auch unter dem Namen Thomisus bekannt, ist genau so ein Rad. Und seine Geschichte beginnt mit einem Preis, der heute fast wie ein Witz klingt: 5 Euro.
Ein Exot aus der Ragno-Serie
Das Bianchi Ragno stammt aus einer experimentellen MTB-Serie, die Bianchi Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre entwickelte. Auffällig ist der markante Rahmen mit geteiltem Oberrohr und zusätzlichen Sitzstreben, die direkt ans Oberrohr führen – eine eigenständige Konstruktion mit funktionalem Hintergrund: erhöhte Seitensteifigkeit bei gleichzeitig gezieltem Flex im Hinterbau.
Die Rohrsets bestanden meist aus Tubi Calibrati Bianchi, teils ergänzt durch Oria CrMo-Rohre. Der moderate Rohrdurchmesser verleiht dem Rahmen ein elastisches, aber direktes Fahrgefühl. Technisch sauber verarbeitet, ohne kosmetische Übertreibung – typisch italienisch.
Geometrisch liegt der Rahmen zwischen frühem Trail- und All-Terrain-Bike. Im Vergleich zu heutigen Gravelbikes: hoher Stack, flacher Lenkwinkel, kurzes Sitzrohr und kompakte Kettenstreben – ein agiles Setup mit 26"-Laufrädern.
Zur Serie gehörten mehrere Modelle, benannt nach Spinnengattungen:
Meta, Thomisus, Pholcus, Theridion, Migale, Araneus.
Unser Exemplar gehört vermutlich zur Thomisus- oder Theridion-Serie – heute ein Unikat.
Kreuzberger Alltag & Berliner Patina
2002 wurde der Rahmen auf einem Berliner Recyclinghof entdeckt – schrottreif, aber vollständig. Für fünf Euro wechselte er den Besitzer und diente 14 Jahre lang als Singlespeed-Stadtrad. Alltag in Berlin hieß: Laternenpfähle in Kreuzberg, Kopfsteinpflaster, Berghain-Nächte und rostige Pedale.
Gestohlen wurde es nie – vielleicht, weil es zu unscheinbar war. Die Bianchi-Aufkleber waren entfernt. Ein Urban Stealth Fighter aus Stahl.
Erste Transformation – MTB-Reinkarnation (2017)
2017 bekam das Ragno eine Pulverbeschichtung in klassischem Celeste und wurde zum robusten Adventure-Bike.
Setup:
– Nitto Bullmoose-Lenker
– SRAM 1×10 Antrieb (X0/X9)
– Panaracer Dart & Smoke-Reifen
– Silberne Komponenten, Cruiser-Geometrie
Ein stilvolles, fahraktives Alltagsrad – doch kaum genutzt. Zu speziell. Es verschwand wieder im Schuppen.
Zweiter Anlauf – diesmal perfekt (2025)
2025 folgte der Neustart: eine Dropbar-Conversion mit Allroad-Charakter.
Ausstattung:
– Microshift 10s STI-Hebel
– Custom Nextie Carbonlaufräder mit Hope Naben (Felgenbremse)
– Tapeless Tubeless-System
– Continental Race King 2.2"
– Shimano XT V-Brake vorn, U-Brake hinten
– BBB-Cockpit, komfortabler Reach
Das tapeless Tubeless-System spart Gewicht, eliminiert das Felgenband und verbessert Dichtheit und Rollverhalten. In Kombination mit großvolumigen Reifen und leichten Laufrädern ergibt sich ein agiles, direktes Fahrgefühl – mit weniger Rollwiderstand und spürbarer Dynamik.
Von der Straße zum Titelbild
Kurz nach dem Umbau wurde das Bike in der Facebook-Gruppe „Gravel Bike Conversions from Old 26" MTBs“ mit über 25 000 Mitgliedern zum Titelbild gewählt.
Diese Community gilt als lebendiges Archiv für technisches Wissen, Umbauideen und gelebte Fahrradkultur – und als Motor für den Trend zur Wiederverwendung alter 26"-Rahmen. Der Umbau des Ragno wurde dort als Paradebeispiel gefeiert: respektvoll, funktional, stimmig – ohne Nostalgie.
Nachhaltigkeit ohne Dogma
Was hier entstand, ist mehr als ein Restomod. Es ist ein Statement für Substanz und Stil jenseits von Modezyklen. Nachhaltigkeit bedeutet nicht Verzicht, sondern kluge Auswahl, Langlebigkeit und Leidenschaft.
Bei Bockstein glauben wir daran, dass ein gutes Produkt nicht ersetzt, sondern weitergedacht werden sollte. Und manchmal ist ein altes Bike das modernste Statement von allen.